Offener Brief

Offener Brief an Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger, Mittwoch, 23.03.2022

Kein Fortschritt ohne Bildungsgerechtigkeit -Unsere Forderungen für die laufende BAföG-Novelle

Während das BAföG noch im letzten Jahr seinen 50. Geburtstag feierte, wurde wieder einmal klar, dass das Ziel, Chancengleichheit im Bildungssystem zu schaffen, in weiter Ferne liegt. Die ursprünglich gute Idee des BAföG wurde in der Realität schlecht umgesetzt und in den letzten Jahren und Jahrzehnten bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt. Der letzte BAföG-Bericht zeigt es schwarz auf weiß: Das Rekordtief der Förderquote von 11,2% aller Studierenden sinkt weiter, während Fördersätze nicht zum Leben reichen und Förderbedingungen Studium und Beantragung zur Tortur machen. Für uns als BAföG50-Bündnis ist seit langem klar: Das muss sich ändern! Von der Bundesregierung erwarten wir daher eine Reform, die ihren Namen wert ist. Mit Blick auf den vorliegenden Referent*innenentwurf des Bundesbildungsministeriums müssen wir allerdings konstatieren, dass es eher nach einer kleinen Novelle aussieht als nach einem echten Aufbruch mit klarem Plan. Daher erklären wir:

Das BAföG muss zum Vollzuschuss zurückkehren! Die Angst vor der Schuldenfalle sorgt dafür, dass sich Menschen gegen ein Studium und die BAföG-Beantragung entscheiden. Das zeigt insbesondere die gewaltige Differenz zwischen Antragsberechtigten und BAföG-Beziehenden. Wer die Förderquote erhöhen will, muss an einer dramatischen Absenkung der Maximalverschuldungsgrenze und des Darlehensanteils ansetzen!

Weiter braucht es eine schnelle Anpassung der Fördersätze an die Realität! In den letzten Jahren wurden nur minimale Anpassungen vorgenommen, sodass die BAföG-Sätze weit hinter der Lebensrealität von Studierenden, Schüler*innen und Auszubildende zurückbleiben. Bei der Betrachtung der Zusammensetzung der Fördersätze wird deutlich, dass insbesondere Ausgaben für notwendige analoge und digitale Lernmittel in keiner Weise berücksichtigt werden. Studierende, Schüler*innen und Auszubildende sind dadurch von ständigen finanziellen Sorgen begleitet und Bildung wird eine Frage von Geld. Hierbei ist auch wichtig, dass die Wohnkostenpauschale an die Realität angepasst wird und stark steigende Mieten vollumfänglich anerkannt werden. Der derzeit geplante 5%-tige Anstieg der Bedarfssätze sowie der 10%-tige Anstieg der Wohnpauschaule gleicht auf keinen Fall aus, was in den letzten Jahren versäumt wurde und ist – wieder einmal – mehr eine willkürlich festgelegte Erhöhung als eine Anerkennung des tatsächlichen Bedarfs.

Da hilft es auch nichts, dass der Deutsche Bundestag einen Heizkostenzuschuss für BAföG-Beziehende beschlossen hat, dessen Höhe und Förderkriterien der dramatischen Situation der Nebenkostenabrechnungen nicht angemessen ist. Die notwendige Anpassung der Fördersätze an die Realität wird erneut verpasst. Wir fordern daher – über angemessene Anhebungen von Fördersätzen und Wohnzuschuss hinaus – die überfällige Einführung einer Digital- und Lernmittelpauschale von 500€ im Jahr! Statt willkürlicher und unzureichender prozentualer Anhebungen braucht es endlich eine Berechnung der Fördersätze, die sich an der Realität von Studierenden orientiert. Bildung darf nicht vom Volumen des Geldbeutels abhängen!

Das BAföG muss unabhängig von Eltern, Ehepartner*innen und Altersgrenzen beantragt und bewilligt werden! Insbesondere die Elternabhängigkeit hält an veralteten Familienbildern fest und steht der Selbstbestimmung junger Menschen diametral entgegen. Noch dazu nötigt sie Studierende dazu, im Ernstfall juristisch gegen die eigenen Eltern vorzugehen, um die Finanzierung der eigenen Bildung zu sichern. Die Anhebung der Elternfreibeträge um 20%, wie sie von der Bundesregierung vorgesehen ist, ist daher ein wichtiger erster Schritt. Er reicht aber nicht – die Elternunabhängigkeit muss vollständig erreicht werden!

In diesem Zusammenhang ist es zudem zwingend geboten, dass die bestehende Förderhöchstdauer (i.d.R. sechs Semester im Bachelor, vier Semester im Master) sowie die Pflichten zur Einreichung des Leistungsnachweises und die restriktive Beschränkung der Studienfachwechsel abgeschafft werden. Sie sorgen derzeit dafür, dass die wenigsten Studierenden ihr Studium im Rahmen ihrer BAföG-Förderung wirklich abschießen können und charakterisieren die zunehmende Ökonomisierung des Bildungssystems. Eine massive Anhebung der Förderhöchstdauer wäre ein erster Schritt, der schnellstmöglich umgesetzt werden muss. In den veröffentlichten Plänen der BAföG-Novelle lässt sich hier allerdings noch keinerlei Initiative erkennen, Studierenden wieder den notwendigen Raum für persönliche Entfaltung zu gewähren. Wir erwarten, dass hier nachgebessert wird!

Das Problem von Bildungsungleichheiten besteht allerdings auch schon vor dem Studium. Die Wiedereinführung des allgemeinen Schüler*innen-BAföG ab Klasse 10 ohne Sonderbedingungen muss daher ebenfalls in der laufenden Novelle erreicht werden!

Weitere Forderungen:

Sog. „Idealtypische“ Bildungswege sind weder Ideal noch zeitgemäß. Damit die Bildungsfinanzierung endlich im 21. Jahrhundert ankommen kann, muss die Ampel-Koalition auch die Altersgrenzen ab 45, die derzeit diskutiert wird, abschaffen!

Darüber hinaus fordern wir ein BAföG, das herkunftsunabhängig und unabhängig vom Aufenthaltsstatus bewilligt wird, um der Ungleichbehandlung von deutschen und ausländischen Studierenden endlich ein Ende zu setzen!

Extracurriculare Erfahrungen, bspw. Nebenjobs, Praktika und die Ausübung von Ehrenämtern, wichtig für die persönliche und berufliche Entwicklung. Es darf daher nicht sein, dass über die Anrechnung von Zuverdiensten BAföG-beziehende Studierende bestraft werden, die neben dem Studium diese Erfahrungen sammeln. Zudem fordern wir eine Erweiterung der Anerkennung von Ehrenämtern auch über die Verfasste Studierendenschaft hinaus sowie die Aufnahme der Anerkennung von Nebenjobs und Pflegetätigkeiten bei der Prüfung der BAföG Bezugsberechtigung.

Um soziale Herkunft und Studienentschluss wirklich voneinander zu entkoppeln, ist ein Studienstartbonus einzuführen! Nach den Ankündigungen von Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger im Dezember haben wir daran hohe Erwartungen und werden die Bundesregierung an ihren eigenen Worten messen. Klar ist: Allen Studierenden muss die Sorge vor großen Anschaffungen, die der Studienstart voraussetzt, über einen allgemeinen Studienstartbonus in ausreichender Höhe genommen werden.

Die Pandemiemonate haben glasklar gezeigt: Studierende ohne BAföG-Anspruch werden von der eiskalten finanziellen Realität regelmäßig eingeholt, was sie in erheblicher Zahl zum Studienabbruch zwingt. So kann es nicht weitergehen. Dass auch die Bundesregierung die Einführung eines Notfallmechanismus anstrebt, begrüßen wir. Dieser muss seinen Namen aber auch wert sein! Dies kann er nur, wenn er Studierenden unbürokratische und kurzfristige Förderungen in Höhe des BAföG-Höchstsatzes ohne Verschuldungskomponente gewährt. Auf keinen Fall darf der Notfallmechanismus einen Studienkredit konstituieren: Insbesondere Menschen in plötzlichen Notsituationen treibt ein solcher in die Schuldenfalle und vergrößert die soziale Spaltung der Gesellschaft statt sie einzuhegen.

Daneben muss dringend die teils prekäre Situation der BAföG-Altschuldner*innen verbessert werden! Besonders absurd ist dabei die Ungleichbehandlung von Altschuldner*innen, die das 26. BAföG-Änderungsgesetz von 2019 konstituiert hat. Wir fordern die Ausweitung des Schuldenerlasses nach 20 Jahren sowie der 77-Raten-Regelung auf alle ehemaligen Studierenden!

Insgesamt muss klar sein: Keine BAföG-Novelle ohne ernstgemeinten, tatsächlichen Einbezug von Studierenden, Auszubildenden und Schüler*innen! Wir fordern, dass die Bundesregierung die höchst sozial-exklusive Realität anerkennt, die die katastrophale Schieflage des BAföG in den letzten Jahrzehnten zugelassen hat. Um bildungspolitischen Fortschritt zu ermöglichen, müssen das Bundesbildungsministerium und die Ampel-Koalition dringend umfassende Veränderungen hin zu freier Bildung über sozio-ökonomische Klassengrenzen hinweg auf den Weg bringen. Bloße Absichtserklärungen reichen dabei nicht! Wir appellieren daher nachdrücklich an das Bundesbildungsministerium, seine bisherigen Vorstöße im Rahmen der BAföG-Novelle zu überarbeiten. Nach 50 Jahren hat das BAföG im Sinne umfassender Bildungsgerechtigkeit einen echten Aufbruch verdient!

Zu diesem Bündnis gehören unter anderem: